Seit in den 1980er-Jahren Unternehmensberater und Beratungsfirmen aufgekommen sind, sind Optimierung, Effizienzsteigerung und Einsparung die obersten Gebote. Doch ist Optimierung wirklich der Heilige Kral für Unternehmen? Es zeigt sich, dass Überoptimierung einer der größten Hemmschuhe für Innovation ist.

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Grundsätzlich ist Optimierung positiv. Mit Einführung von ERP-Software wie SAP R/2 vor einigen Jahrzehnten konnte man erstmals beurteilen, was Mitarbeiterinnen objektiv leisten. Das war ein maßgeblicher Meilenstein in der Unternehmensentwicklung, und Beratungsfirmen sprießten nur so aus dem Boden. Alles wurde plötzlich auf den Prüfstand gestellt, jeder Vorgang analysiert. Nur der eigentliche Sinn der Vorgänge wurde nicht hinterfragt.

Shareholder value über alles

Die shareholder value–Strategie wurde zum einzigen Maß für Effizienz.  Daran ist Kritik zu üben! Unternehmen haben nicht mehr aufgehört, zu optimieren. Aktienkurse werden mit Marketingtricks »hochgepushed«. Aber mit dem eigentlichen Geschäftszweck haben diese »Optimierungen« nicht mehr viel zu tun. Man hat die Mitarbeiterinnen “sich überarbeiten lassen”, um den Aktienkurs zu steigern und Menschen im Konkurrenzdenken gegeneinander aufgehetzt. Was wir jetzt im Homeoffice erleben, wurde schon damals eingeführt: Die Stechuhren wurden abgeschafft. Dies hatte zur Konsequenz, dass Menschen im Effizienzwahn mehr arbeiteten, ohne dafür entsprechend entlohnt zu werden. Dies mündete in einer Ausbeutung der Mitarbeiterinnen und führte zu einer enormen Stressbelastung.

Da man ständig alles überwachen konnte, wurde dafür gesorgt, dass Mitarbeiterinnen immer und zu jeder Zeit »arbeiteten«. So werden die Schlangen beim Check-in-Schalter am Flughafen beispielsweise bewusst herbeigeführt, damit Menschen, die am Schalter arbeiten immer zu 100 % beschäftigt sind und ihnen die Arbeit auch nicht ausging. Auf der anderen Seite des Schalters steht der Passagier/die Passagierin, der/die deswegen eine zusätzliche Stunde Wartezeit in Kauf nehmen muss. Diese Serviceeinbuße wird der maximalen Auslastung geopfert.  Würde man eine Auslastung der Mitarbeiter von »nur« 90 % anstreben, würden sich Millionen von Menschen Millionen von Stunden Wartezeit sparen. Durch diese Art der Optimierung wird folglich auch Arbeit auf den Kunden/die Kundin abgewälzt. Dies können wir in vielen Bereichen täglich erleben. Optimierung auf unsere Kosten. Das Auto wird im Internet selbst konfiguriert, die Reise selbst zusammengestellt und gebucht und die Beratung beim Online-Shopping erledigen Foren oder Likes.

Der Kunde ist Gegenstand der Optimierung

Stress und psychische Erkrankungen, wie beispielsweise Burnout sind seit der Optimierungswelle im Vormarsch. Ein essenzieller Grund dafür ist, dass Menschen in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeschränkt und in Prozesse eingezwängt sind. Sie müssen diesen Prozessen strikt folgen. Dadurch wird die Arbeit einfacher (im Sinne von simpler). Auch wenn es die Sinnhaftigkeit des Prozesses in Frage stellt. »Der Prozess sieht das so vor«. Es ist egal, ob er sinnhaft oder sinnlos ist. Menschen werden zu Funktionseinheiten des Prozesses. Sie funktionieren, bis sie schließlich nicht mehr funktionieren.

Effizienz und Innovation stehen im Gegensatz zueinander

Wenn wir überoptimieren, und die Prozesse so eng verzahnt sind, bleibt kein Spielraum mehr für Innovation. Innovation braucht Zeit und Raum. Der Flughafenbetrieb ist heutzutage so durchgetimt, dass eine kleine Störung im System weltweite Auswirkungen haben kann. Ein Sturm über dem Frankfurter Flughafen kann Verspätungen für Anschlussflüge in Argentinien bedeuten. 

Optimierung erlaubt es auch, niedrigere Löhne zu zahlen. Wenn niedriger qualifizierte Tätigkeiten ausgelagert oder gar durch Automatisierung oder Digitalisierung wegrationalisiert werden, kann man den Menschen in niedrigere Lohngruppen einstufen. Und schon wird Innovation beschränkt. Denn der Mensch wird nur mehr für genau den Handgriff bezahlt, für den er vorgesehen und eingestellt wird. Eine höhere qualifizierte Tätigkeit dürfte er gar nicht machen, denn er wird dafür nicht bezahlt.

Tertiarisierung des Arbeitsmarktes

Mittlerweile arbeiten die meisten Menschen im Dienstleistungssektor, dem sogenannten III. Sektor. Hier schreitet die Rationalisierung stark voran. Uber-Fahrer werden durch selbstfahrende Autos ersetzt, der Backautomat im Supermarkt ersetzt den Bäcker und so werden Schritt für Schritt ganze Berufsgruppen verschwinden. Durch das Verschwinden der Menschen in diesen Bereichen geht auch Erfahrung und Innovationspotential verloren.

Überoptimierung erhöht die Markteintrittskosten

Unternehmen »üben« und investieren zunächst jahrelang, bis sie einen heute zu erwarteten Optimierungsgrad überhaupt erreichen. Dies macht den Markteintritt für innovative Newcomer ungleich schwieriger, weil Startups diesen langen Atem oft nicht mitbringen. In der Autoindustrie kann man dies gerade sehr schön beobachten. Während die »alten« Hersteller rückwärtsgewandt an ihren alten Technologien festhalten, sehen neue Hersteller die Zukunft in der Elektromobilität. Ein Elektroauto ist ungleich einfacher aufgebaut, da die Antriebstechnik weniger Teile benötigt und praktisch wartungsfrei ist. Dadurch reduzieren sich auch die Markteintrittskosten. Während es früher praktisch nur in Einzelfällen gelungen ist, neue Nischenhersteller zu etablieren, drängt nun eine Vielzahl neuer Hersteller auf den Markt. Diese Newcomer haben einen anderen Zugang. Anstatt alles “zu Tode” zu rechnen und zu optimieren, holen Sie sich die finanziellen Mittel von Geldgebern und arbeiten einfach “drauf los”. Ein »alter« Hersteller hat die Erwartung, dass sich ein Investment sofort rechnet. Diese Erwartung gilt es zu hinterfragen. Wenn eine Firma wie Tesla um Milliarden ein neues Werk hinstellt, wird sie damit nicht gleich Geld verdienen. Aber sie schafft etwas: sie schafft Werte. Volkswagen hat in seinen guten Zeiten bis zu 20 Mrd. Euro Gewinn erwirtschaftet. Ein Fünf-Milliarden-Investment in eine Batteriefabrik wäre also nur der “Gewinnverlust” von drei Monaten gewesen. Während auf der einen Seite am Auslaufmodell Verbrennungsmotor mit gigantischen Mitteln überoptimiert wird, wird auf der anderen Seite komplett übersehen, dass bei einem Auto heutzutage die Software und nicht mehr die Hardware das Wichtige ist. Vor zu viel Optimierung hat man übersehen, diese wichtige Kompetenz aufzubauen.

»McDonaldisierung der Wissenschaft«

Die Überoptimierung geht sogar schon so weit, dass sie die Wissenschaft infiltriert. Bacherlorarbeiten werden nun fürs »Optimierte Brötchenbacken« geschrieben. Forschung beschränkt sich zunehmend auf das Durchführen von Umfragen und Auswerten von Fragebögen, um dem Druck des Publikationszwangs gerecht zu werden. Ist es nicht Sinn der Forschung, Neues zu erfinden? Hier wird analysiert und vermeintlich optimiert.

Ursachen für die Überoptimierung und damit verkümmernde Innovationsfähigkeit ist möglicherweise auch die Spezialisierung. Mitarbeiterinnen werden wütend, weil sie gezwungen werden, aus ihrer Sicht sinnlose Tätigkeiten durchzuführen. Die Spezialisierung lässt kein »out of the box«-Denken zu. Forschung muss man beständig und nachhaltig betreiben. Denn Menschen brauchen Ruhe und Zeit, um kreativ und innovativ zu sein. Aber diese Zeit wird ihnen nicht gegeben. Im Gegenteil: Oft wird bei der Innovation gespart, denn sie verursache “nur” Kosten.

Das System krankt

Eine sich entwickelnde Firma geht bei Erfolg von einem flexiblen und lebendigen Prozess in einen starren Zustand über. Diese Stagnation durch den »Optimierungswahn« gleicht dem perfektionistischen bis hin zu zwanghaften Verhalten aus der Psychologie. Zwänge geben scheinbar Sicherheit. Optimierung gibt scheinbar Sicherheit. Dahinter liegen Ängste, Ängste vor Kontrollverlust, vor Versagen, letztlich vor dem Leben. Denn Innovation bedeutet Lebendigkeit. Ein Unternehmen, das zwanghaft optimiert, wird unflexibel, unlebendig, und deren Strukturen verkrusten. Sich in verantwortlichen Positionen mit den inneren Antreibern und den dahinterliegenden Ängsten zu beschäftigen, kann ein Weg heraus aus der zwanghaften Optimierung sein. 

Innovation lässt sich im Privatleben wunderbar üben, indem Sie z.B. alternative Speisen anstatt des traditionellen Weihnachtsessens kochen. Oder Sie Erneuern Ihre Einrichtung, stellen Möbel um und vieles mehr. 

Tipp: Setzen Sie sich und Ihr Team bei Besprechungen um. Achtung: Um-setzen steigert die Um-sätze!

In der Gruppe multipliziert sich das Optimierungsverhalten. Aber hochqualifizierte Arbeit oder innovative Umgebungen können in so einem Umfeld nicht gelingen. Gute Ideen benötigen »Denkressourcen«, so wie ein Computer Arbeitsspeicher benötigt. Wenn er voll ist, geht nichts mehr, und man muss Anwendungen schließen. Eigentlich wäre es nur konsequent, die innovativen und kreativen Köpfe von der Arbeit freizustellen, sie in den Wald zum Spazierengehen zu schicken, und sie wiederzurückkommen zu lassen, wenn sie eine tolle Idee haben. Das ermöglichen Unternehmen bedauerlicherweise kaum, weil sie glauben, sie könnten sich das nicht leisten. Und die Mitarbeiterinnen glauben das auch. Kreativität braucht Muße und Muße ist nur möglich, wenn Zeit ist zum »Runterkommen«. 

Vielleicht doch an und an eine Stufe runterschalten und sich in den stillen Wald setzen, als den Optimierungsschalter auf die nächste Stufe zu stellen? Jetzt wäre der Zeitpunkt, »runterzukommen« und darüber nachzudenken, wie und wo Sie Zeit finden, innovativ zu sein. Und zwar in einer Weise innovativ, dass Sie später weniger arbeiten müssen und trotzdem mehr als genug erreichen.

Das wäre doch eine gute Optimierung, oder?