
Kontingenz – Alles ist möglich, aber nix ist fix!
Ein Zustand ist dann kontingent, wenn er viele verschiedene Entwicklungen, die alle möglich, aber nicht zwingend notwendig sind, zulässt. Diese Erkenntnis kann Auswirkungen auf den Entscheidungsprozess in Unternehmen haben.
Der Begriff der Kontingenz findet in vielen Bereichen Anwendung, oft mit fein unterschiedlichen Bedeutungen. Es lässt sich aber ein gemeinsamer Nenner erkennen. Die Optionen, Alternativen, möglichen Ausgänge sind weder notwendig noch unmöglich. In vielen Fällen ist es offensichtlich, dass es verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten gibt. Die Kontingenz kann sogar so weit gehen, dass die Situation paradox erscheint.
Ein Beispiel: Jemand tätigt eine Aussage, dass ein Auto blau lackiert ist. Es erscheint aber grün. Dies könnte man spektralanalytisch klar feststellen. Die Aussage, dass das Auto blau sei, hat folglich keinen Wahrheitsgehalt. Kontingenz schaltet aber das Substanzdenken aus. Es ist also gar nicht mehr so wichtig, welche Farbe das Auto hat. Denn es muss ja trotzdem nicht zwingend grün sein. Es kann theoretisch auch blau sein. Die »Entwicklung« des Zustandes hat also zwei Möglichkeiten. Erstens, dass die Person, die behauptet, das Auto sei blau, eine Farbsehschwäche hat oder die Definition der Farben »blau« und »grün« bei den beiden Betrachtern nicht abgestimmt ist. Klingt verwirrend? Ist es auch. Aber es verdeutlicht das Konzept von Kontingenz, wenn man sich von der augenscheinlichen Betrachtung, also der Substanz, entkoppelt.
Vielfältige Anwendung
Luftfahrt
Ein Beispiel für Kontingenz, das sich leichter verstehen lässt, ist in der Luftfahrt zu finden. In der komplexen Berechnung der Treibstoffmenge für jeden Flug wird auch sogenanntes contingency fuel berücksichtigt.

Zusätzlich zu verschiedenen Reserven, wie beispielsweise dem benötigten Treibstoff zum Ausweichflughafen und der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestreserve, wird auch eine Kontingenz berücksichtigt, die weitere Faktoren miteinbezieht, die für jeden Flug betrachtet wird. In diesem Fall wurde noch Treibstoff für 15 weitere Minuten Flugzeit eingerechnet. Dieser sogenannte contingency fuel ist für Situationen, die möglich sind, aber nicht zwingend eintreffen müssen. Da diese Situationen aber möglich sind, und das Flugzeug keine Möglichkeit hat, den zusätzlichen Treibstoff während des Fluges hinzuzufügen, wird in der Annahme, dass Unvorhergesehenes eintreten kann, contingency fuelsicherheitshalber mitgeführt.
Architektur
Kontingenz kann auch in einem ganz anderen Bereich Anwendung finden. Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen werden durch Hindernisse wie Stufen, unwegsames Gelände, Grenzen gesetzt. Die Beeinträchtigung der Betroffenen war nicht vorhersehbar, sie ist passiert, beispielsweise bei der Geburt, durch Krankheit, Unfälle oder Genmutation. Aber sie ist nun mal da. Also können Zustände für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung unterschiedliche Auswirkungen auf das tägliche Leben haben. Die Möglichkeit des unterschiedlichen Erlebens ein und derselben Situation kann also für verschiedene Menschen auch ganz unterschiedlich ausfallen. Wenn wir ein Gebäude barrierefrei konzipieren, so beziehen wir die Kontingenz mit ein, indem wir davon ausgehen, dass Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung das Gebäude ebenfalls benutzen werden. Aber nicht zwingenderweise.
Sicherheit
Warum wird bei einer Sprengung das Areal großräumig abgesperrt?

Weil wir davon ausgehen müssen, dass der Einsturz anders kommt, als geplant. Es gibt viele Möglichkeiten, aber keine davon ist zwingend. Aus Sicherheitsgründen (Sicherheitsdenken ist ohne Kontingenz kaum möglich) müssen wir davon ausgehen, dass »etwas passieren kann«.
Kontingenz in der Unternehmensführung
Was bedeutet dies nun in der unternehmerischen Praxis? Unternehmen, Führungspersonal, oder Teammitglieder sind permanent mit kontingenten Zuständen konfrontiert. Vordergründig ist dabei von Bedeutung, die Situation als kontingent wahrzunehmen. Man sollte also bemüht sein, sich vom »Schwarz-weiß-Denken« abzukoppeln und die Annahme zulassen, dass viele verschiedene Ausgänge möglich, aber nicht zwingend sind. Situationen sollten daher ständig neu bewertet werden, um belastbare und nachhaltige Entscheidungen treffen zu können. Ein (unverbrauchter) Blick von außen ist dabei sehr hilfreich. Man kann auch lernen, die eigene Situation als »außenstehender Betrachter« zu analysieren. Oft sind in Situation andere Entscheidungsmöglichkeiten gegeben, die nicht sofort wahrgenommen werden. Oft sind wir betriebsblind oder handeln aus Gewohnheit, ohne weitere Optionen zuzulassen. Dabei ist immer gegeben, dass weitere Optionen möglich, aber eben nicht zwingend notwendig sind. Kontingentes Denken vergrößert meinen Handlungsspielraum und gibt den Weg für eine bessere Option frei, die vielleicht noch gar nicht gesehen wird, weil man »den Wald vor lauter Bäumen übersieht«.
Kontingente Zustände ermöglichen kontingentes Denken
Unternehmen sind laufend mit neuen Situationen bzw. Zuständen konfrontiert, die Entscheidungen erfordern. Daher ist es essentiell, den gegebenen Zustand erst einmal zu akzeptieren. Diese Akzeptanz gibt den Weg für den weiteren Entscheidungsweg frei. Die vordergründige Lösung ist dabei als nur eine mögliche Lösung anzusehen, da sie möglicherweise nicht zwingend notwendig ist. Weitere Optionen sind aktiv durchzudenken, samt ihren Auswirkungen und Konsequenzen. Das bewusste »Weiterdenken« in verschiedene Entscheidungsoptionen, ähnlich wie beim Schachspiel, ist ein wesentlicher Schritt, um bessere Entscheidungen zu treffen.

Diese Optionen ermöglichen neue Chancen, an die man bisher nicht gedacht hat. Dabei hilft auch das sogenannte »Out of the box-Denken«. Dazu braucht es Mut, Fantasie, Kreativität, Disziplin und Zuversicht. Das Bewusstsein von Kontingenz dient als Katalysator für Entwicklung, weil man so eine größere Auswahl an Optionen erhält.